Evangelischer Blindendienst Berlin - Zwischen Ost und West, zwischen Tradition und multikultureller Partizipation
Bild: c. Evang. Blindendienst Berlin, Eine Skulptur des segnenden Jesus. Nach Aussage von Daniela Nischik drückt das Foto vom segnenden Jesus in Bethel sehr gut das Anliegen ihrer Arbeit aus.
Daniela Nischik ist Pastorin in Berlin. Sie betreut dort einen ganz besonderen Dienst und sagt von sich selbst: "Ich bin weder voll sehend noch total blind". Mit ihrer persönlichen Erfahrung übernahm sie eine lange Tradition in der Blindenseelsorge und setzt eigene Akzente.
In diesem Gespräch ist mehr zu erfahren über Geschichte und Gegenwart des Evangelischen Blindendienstes im Spannungsfeld zwischen Tradition und multikultureller Partizipation, aber auch zwischen Ost- und Westberlin. Und sie bringt dabei auch eine erfrischende Prise Humor mit, wenn sie z.B. sagt: "Der größte Kreis neben Brunch- und Gospelgruppe ist jetzt erstaunlicherweise im wilden Osten, in Marzahn".
Zur Webseite des Evangelischen Blindendienstes Berlin http://www.blindendienst-berlin.de
Transkript
Sorge: Am Telefon begrüße ich Pastorin Daniela Nischik aus Berlin. Hallo!
Nischik: Hallo! Guten Tag!
Sorge: Wir wollen uns heute ein wenig unterhalten über den christlichen
Blindendienst in Berlin, und zwar über Historie und Aktuelles. Warum
Historie? Ihr habt im vergangenen Jahr ein Jubiläum gefeiert. Worum ging es
denn da?
Nischik: Wir haben 2023 70 Jahre evangelischer Blindendienst in Berlin
gefeiert, aber ich denke, Du hast schon richtig angefangen mit dem Begriff
„christlicher Blindendienst“, weil, so hieß der wohl ursprünglich. Aber
dann wurde der evangelische Blindendienst draus. Wir sind aber seit 1953
immer offen gewesen für Menschen, die interessiert sind, die zu uns kommen
und haben da keine Unterschiede gemacht.
Sorge: Weißt Du aus dem Erzählen, wie es damals zur Gründung des, damals
noch christlichen Blindendienstes gekommen ist?
Nischik: Es war so, dass es in Berlin zwei Anfänge gab, einmal gab es einen
Herrn Vokenn, der war wohl in Westberlin, und dieser hat wohl immer so
einmal im Jahr blinde Menschen, die er kannte, zusammen gerufen zu einer
großen Veranstaltung. Im Ostteil Berlins gab es mehrere Hausbibelkreise, die
von Blinden oder Sehbehinderten selber begonnen wurden, u.a. war mit dabei
Friedrich Giehlke, der kriegsblind war und damals noch am Paulinum Theologie
studierte. Diese Blinden und Sehbehinderten, die sich in kleinen Gruppen
getroffen haben, nahmen Kontakt zum damaligen Bischof Gesamtberlins Dibelius
auf und sprachen ihn an und sagten – „wir wollen so etwas, wie es dies in
anderen Bereichen Deutschlands auch gibt, nämlich dass sich die evangelische
Kirche um blinde Christen kümmert und dass es einen christlichen, einen
evangelischen Blindendienst gibt. Das war auch noch eine Anregung von Herrn
Hentsch.
Sorge: Ja, Georg Hentsch habe ich auch noch kennen gelernt. Ich habe damals
in der Blindenhörbücherei - nannte sich zu DDR-Zeiten so – gearbeitet. Er
war Initiator und Gründer dieser Einrichtung, um Texte und Hörbücher zu
vertonen.
Nischik: Genau, er war sehr engagiert, war ja selber hochgradig sehbehindert
und fuhr immer mit der Bahn und sagte wohl – so ist es mir überliefert
worden – er genieße das Leben in vollen Zügen und meinte damit wirklich die
„vollen Züge“, mit denen er unterwegs war. Er hatte eben auch Kontakt zu den
blinden Christen in Berlin. Bischof Dibelius, darauf angesprochen, schlug
dann dieser kleinen Gruppe vor „ach, Bibelkreis, ich habe gehört,
Bibelkreis, so etwas macht doch die Berliner Stadtmission. Wenden Sie sich
doch mal an sie“. So kam es von Anfang an zu einer Kooperation des
evangelischen Blindendienstes, der evangelischen Landeskirche und der
Berliner Stadtmission in beiden Teilen Berlins. Und so ist es bis heute.
Sorge: Das ist ja interessant, und das war sicherlich in der Zeit der
Teilung von Berlin etwas Besonderes oder?
Nischik: Ja, es war eigentlich für viele christliche Werke so, dass man
Kontakt hielt, vor allem über die Rentner, die dann von Ost nach West fahren
konnten bzw. auch über die Besucher aus dem Westen, welche in den Osten
fahren konnten. Da gab es Kontakte. Es entwickelte sich auch insofern ein
bisschen unterschiedlich, als dass in Ostberlin dann auch die Diakonie,
sprich, damals Innere Mission, noch mit im Boot war bei der
Blindenseelsorge, während es im Westen die Landeskirche und die Stadtmission
alleine machten. Stadtmission und Landeskirche waren in beiden Stadtteilen
an der Blindenseelsorge maßgeblich beteiligt.
Sorge: Gab es denn bestimmte – neudeutsch Highlights, also vielleicht
besondere Ereignisse oder Phasen in der Geschichte des evangelischen
Blindendienstes auf beiden Seiten der Mauer?
Nischik: Die Höhepunkte, die es gab, waren immer die Freizeiten. Im Westen
war es dann so, dass der Pfarrer Abbas Shah Mohamedi, der gebürtiger Iraner
ist, ab 1970 bis 2000 die Arbeit in Westberlin geleitet hat. Er hat zusammen
mit seiner Frau viele Auslandsreisen organisiert. Im östlichen Bereich
wurden Fahrten innerhalb der DDR durchgeführt, aber auch bis zum Balaton
nach Ungarn zum Beispiel. Die Freizeiten waren sicherlich immer ein
wesentlicher Teil der Arbeit, weil man eben dann Menschen für einige Tage
zusammen hat, und die Menschen nicht erst von A nach B kommen müssen, was ja
für blinde Menschen oft schwierig ist, sondern in einer Gruppe gemeinsam
einige Tage verbrachten. Dann hatte man auch Zeit zu Begegnung und
seelsorgerlichen Gesprächen.
Sorge: Und hat sich dann mit der Wende etwas grundlegend verändert in der
Arbeit, in der Situation der evangelischen Blindenseelsorge in Berlin?
Nischik: Man kam wieder zusammen. Der Leiter war dann der Westberliner
Pfarrer Abbas Shah Mohamedi. Es gab aber im Ostteil für einige Jahre Mitarbeiter.
Hauptamtlich für einige Jahre war dies der Diakon Günter Meyer. Es war aber
dann praktisch eine Arbeit. Aber man merkte noch die unterschiedliche
Prägung. Ich habe immer so ein bisschen lustig, satirisch gesagt – ich fing
ja 2000 an im evangelischen Blindendienst als Leiterin und Pastorin zu
arbeiten – und da habe ich den Unterschied gemerkt: Im Osten gab es in den
Bibelkreisen selbst gebackenen Kuchen, im Westen selbst gekauften Kuchen.
Sorge: Bisschen Spaß muss auch sein. Du hast es gerade angesprochen, Du bist
Pastorin. Du bist schon eine ganze Weile Leiterin des evangelischen
Blindendienstes. Erzähl etwas zu Dir, also was ist für dich wichtig?
Nischik: Ich selber bin von Kindheit an, also von Geburt an, stark
sehbehindert, und mein maximales Sehvermögen waren 10 % nach
Augenoperationen als Kind. Jetzt habe ich etwa noch 5 % auf dem besseren
Auge. Also, ich sag mal, ich weiß wovon ich rede. Als ich anfing als
Pastorin des evangelischen Blindendienstes, leider inzwischen nur noch mit
einer hauptamtlichen Stelle - ich fing im Sommer 2000 an mit der Arbeit –
habe ich dann immer gesagt: Ich bin nicht Fisch, nicht Fleisch, will sagen,
ich bin weder voll sehend noch total blind. Ich habe mich immer so als
Vermittlerin gesehen zwischen sehenden und blinden Menschen, den Sehenden
die Situation von blinden Menschen zu erklären und den Blinden auch mal zu
sagen, he, Leute, auch euer sehender Begleiter ist nur ein Mensch und der
hat auch mal einen schlechten Tag.
Sorge: Was sind so die Kennzeichen Deiner gegenwärtigen Arbeit darüber
hinaus, welche konkreten Angebote macht Ihr?
Nischik: Eigentlich habe ich die Arbeit traditionell weitergeführt, also
einfach die Tradition nicht kaputt gemacht, sondern versucht sie aufrecht zu
erhalten und jeweils anzupassen. Wir haben weiterhin Bibelkreise in
verschiedenen Teilen Berlins. Das sind zurzeit etwa 7 regelmäßige
Bibelkreise. Dazu kommt noch ein ehrenamtlicher Mitarbeiterkreis, wofür wir
zurzeit wieder sehr dringend neue ehrenamtliche Mitarbeiter suchen,
möglichst auch aus christlichen Gemeinden. Dann gibt es eine Brunchgruppe,
die habe ich angefangen auf Anregung eines Bibelbrunches in Nürnberg. Davon
habe ich bei den Tagungen der Blindenseelsorge Deutschland erfahren und habe
das dann auch für Berlin übernommen. Das läuft sehr gut. Dann haben wir noch
eine Gospelgruppe etwa seit 2008 in Zusammenarbeit mit einer
deutsch-afrikanischen Gemeinde. Diese macht mit uns gemeinsam einen
Gospelworkshop so etwa alle 6 Wochen, und das wird auch sehr gut angenommen.
Die Freizeiten gehen weiter, nicht mehr so viele wie früher. Das hat
organisatorische Gründe, sprich, wir brauchen Begleiter, aber auch
finanzielle Gründe spielen eine Rolle. In diesem Jahr haben wir z.B. evtl.
vier Freizeiten. Das andere ist das Hörmagazin. Auch das habe ich
weitergeführt unter dem Titel „Doppelpunkt“. „Doppelpunkt“ war wohl in dem
Sinne gemeint, von meinem Vorgänger ……. Auch wenn ein Mensch blind wird,
geht das Leben weiter, deshalb nicht Punkt, sondern Doppelpunkt. Das ist ein
Hörmagazin, das wir viermal im Jahr, das heißt, in jedem Quartal, kostenlos
heraus geben können.
Sorge: In mir, wenn wir bei den Satzzeichen bleiben, ruft das so bisschen
ein Ausrufungszeichen hervor. Wenn ich mich in der Szene der evangelischen
Blindenarbeit umhöre, bekommt man doch häufig zu hören, dass abgebaut wird,
dass die Kreise immer kleiner werden, dass die Personalien nicht mehr
ausreichend vorhanden sind, um die jeweiligen Angebote aufrecht zu erhalten.
Das klingt hier doch nach einer relativ beständigen und gut angenommenen
Arbeit.
Nischik: Also gut angenommen auf jeden Fall. Durch die letzten Jahre, die
Coronazeit, die Lokdowns hat unsere Arbeit natürlich auch etwas gelitten,
also aus 11 Kreisen sind jetzt 7 bis 8 Kreise geworden. Dann ist es auch so,
dass wir zurzeit einen neuen Stab Ehrenamtlicher aufbauen müssen. Es sind
einige aus Alters- und Gesundheitsgründen ausgeschieden. Das macht sich
schon bemerkbar, aber z.B. bei den Freizeiten, also drei Freizeiten, die ich
in diesem Jahr anbiete, die zwei ersten – eine davon ist jetzt noch im
April, die andere dann im Juli – die waren übervoll. Da musste ich die
Häuser anbetteln, dass wir noch ein oder zwei Zimmer hinzu kriegen können.
Da ist also reger Bedarf und Zulauf. Bei den Kreisen ist es unterschiedlich.
Der größte Kreis neben Brunch- und Gospelgruppe ist jetzt erstaunlicherweise
im wilden Osten, in Marzahn. Das ist interessant.
Sorge: Na gut, der wilde Osten hat so seine Besonderheiten. Aber mich
interessiert mal noch etwas anderes: Man hört ja doch aus einer ganzen
Reihe von Landeskirchen auch von Umstrukturierungen in Bezug auf Seelsorge
mit Menschen, die besondere Bedarfe haben, also die z.B. nicht hören oder
nicht sehen können, das Thema Inklusion, also inklusive Kirche. Mitunter
werden solche klassischen Angebote zurück gefahren, wie solche
Blindenkreise. Man sagt, Blinde sollten doch – ich sage jetzt mal – in die
„normale“ Gemeinde eingegliedert werden oder sollen in ganz klassischen
Kirchgemeinden ganz selbstverständlich auch zu Hause sein können. Wie ist
das in der Berlin-Brandenburgischen Kirche oder besser gesagt, Kirche der
Schlesischen Oberlausitz oder so ähnlich heißt das doch?
Nischik: Ja, ja, die Kirche mit dem längsten Namen. Es ist ja so, es gibt ja
leider, ich sage jetzt mal leider, Blindenfürsorge speziell nur noch in
Berlin. Das war ja nach der Wende so, dass dann in Brandenburg, da waren die
Frau Scheel und der blinde Pfarrer Bendin. In der Schlesischen Oberlausitz
bin ich nicht so genau informiert. Ich weiß, dass es mal in Spremberg eine
große ehrenamtliche Arbeit mit blinden Menschen gab, aber ich weiß nicht,
wie das jetzt aktuell ist. Leider sind die Stellen nicht neu besetzt worden.
Das lag aber auch mit daran, die Christel Scheel war – soweit ich weiß –
über das Diakonische Werk ursprünglich angestellt, also in der DDR bei der
Inneren Mission. Pfarrer Bendin hatte eben dann nach der Wende einen eigenen
Verein gegründet, der aber auf seine Person fixiert war, sage ich mal, und
sich dann auch nicht länger halten konnte. Das ist sehr schade. Aber ich
gebe die Hoffnung nicht so schnell auf. Ich hoffe, dass in der Hauptstatt
Berlin mit den vielen unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen
Bedürfnissen, dass da wirklich die evangelische Blindenseelsorge erhalten
bleibt. Zu den Bibelkreisen kommen ja nicht allein blinde Menschen, sondern
auch Sehbehinderte, auch Sehende, Senioren oder Familienangehörige oder wie
jetzt in Marzahn auch hin und wieder Gemeindeglieder aus der Gemeinde, in
welcher der Blindenkreis stattfindet, und unsere Freizeiten müssen ja auch
im gewissen Rahmen inklusiv sein weil wir immer sehende Begleiter*innen
brauchen. Ich selber mache auch Erfahrungen, dass blinde Menschen, die in
einer Gemeinde zu Hause sind, bei denen die Sehbehinderung bis hin zur
Erblindung zugenommen hat, dass die sehr wohl in ihrer Gemeinde gut
integriert sein und auch z.B. mitarbeiten können beim Frauenfrühstück oder
im Chor. Schwerer ist es aber für junge blinde Menschen, die noch keinen
Kontakt zur Kirche haben. Auch neu erblindete Senioren, die in Gemeinden
sind und dann aus unerfindlichen Gründen plötzlich nicht mehr zum Frauencafé
oder zum Gottesdienst kommen, und wo dann selten nachgefragt wird, warum sie
denn nicht mehr kommen. Ich denke mal, es ist schon wichtig, dass es ein
spezielles Angebot gibt für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, nicht als
Ersatz für Gemeinde, aber vielleicht als Weg zur Gemeinde und auch als
Interessenvertretung in den Gemeinden, dass man sagt, „liebe Gemeinden, so
und so könnt ihr mit blinden Menschen umgehen, kommt doch mal mit zur
Freizeit, dann könnt Ihr bzw. können sie sehen, wie man mit blinden Menschen
inklusiv arbeiten kann“. Ich denke, dass kann ein Geben und Nehmen sein. Ich
hoffe aber, dass in Berlin die Blindenseelsorge mit meinem Ruhestand
irgendwann mal nicht abgewickelt wird und deshalb haben wir auch 70 Jahre
Blindendienst gefeiert, auch deshalb, weil ich gesagt habe, wir müssen auf
uns aufmerksam machen, und wir müssen zeigen, dass hier viele Menschen sind,
die die Angebote annehmen und die darauf zählen, dass es unsere Arbeit gibt.
Sorge: Ich finde, dass war eine schöne Klammer, dass wir jetzt wieder auf
das Jubiläum, von dem wir am Anfang angesprochen hatten, gekommen sind. Und
wenn Inklusion in der Praxis dann so aussieht, dass eben auch zu den
speziellen Angeboten Menschen aus der übrigen Gemeinde kommen, dann ist es
doch tatsächlich – ich sage mal – ein Geben und Nehmen und eine wirkliche
Inklusion, die man da leben kann. In diesem Sinn wünsche ich weiter alles
Gute, und dass das weiter so laufen kann. Ich freue mich, und danke ganz
herzlich für das Gespräch.
Nischik: Ja, vielen Dank, vielen Dank fürs Interesse. Es hat mir auch
Freude gemacht.
Sorge: Ich reiche dann noch nach die Kontaktdaten zum evangelischen
Blindendienst Berlin in der Berliner Stadtmission und der Driesener Straße
1 in 10349 Berlin. Die Telefonnummer ist die 030 Berlin 6914007. Im Internet
gibt es die Adresse www.blindendienst-berlin.de und so ist auch die
E-Mail-Adresse, einfach noch ein info@blindendienst-berlin.de. Und dann
erreicht man unter Umständen Pastorin Daniela Nischik.
Nischik: Ja, vielen Dank. Ich sag mal noch zur Adresse: Da kommt einfach
noch drüber
„Evangelischer Blindendienst“
Driesener Straße 1
10439 Berlin
Sorge: Exakt!
Nischik: Weil wir nicht in der Stadtmission direkt sind, sage ich einfach
für die Post „Blindendienst“.
Sorge: Okay, dann hätten wir das auch geklärt. Ich bedanke mich!
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Veröffentlicht am 23.05.2024 von Sorge, Jörg